Wenige Tage vor der 27. UN-Klimakonferenz (COP27) im ägyptischen Sharm El-Sheikh legt der Expertenrat für Klimafragen (ERK) zum ersten Mal sein Zweijahresgutachten vor. Gemäß dem gesetzlichen Auftrag untersucht das unabhängige Gremium in dem Gutachten die bisherigen Entwicklungen der Treibhausgasemissionen, Trends bezüglich der Jahresemissionsmengen und die Wirksamkeit von Maßnahmen mit Blick auf die Zielerreichung nach dem Bundes-Klimaschutzgesetz.
Betrachtet wird zunächst der Zeitraum 2000-2021, in dem die Treibhausgasemissionen in Deutschland temperaturbereinigt um rund 27 Prozent zurückgingen. Dabei trug die Energiewirtschaft fast die Hälfte zu dieser Minderung bei, insbesondere ab dem Jahr 2014. In den Sektoren Gebäude, Verkehr und Industrie wurden demgegenüber die größten effizienzbedingten Minderungserfolge in der ersten Dekade (2000 bis 2010) erzielt. Danach folgte eine Phase der Stagnation oder sogar eines leichten Emissionsanstiegs, bis dann, auch infolge der Covid-19-Pandemie, in der Industrie und 2020 im Verkehr wieder ein Emissionsrückgang zu verzeichnen war, der sich 2021 jedoch schon wieder umkehrte.
„Wir sehen, dass ein nahezu kontinuierlicher Zuwachs der Aktivitäten in allen Sektoren einschließlich Rebound-Effekten einer technisch möglichen stärkeren Absenkung der Emissionen entgegenwirkte“, so der Vorsitzende Hans-Martin Henning. „Effizienzgewinne wurden also beispielsweise durch das allgemeine Wirtschaftswachstum, größere Wohnfläche oder gestiegene Transportleistungen konterkariert.”
Die in der Vergangenheit beobachtete Entwicklung der Treibhausgasemissionen wie auch die Fortschreibung der Trends der letzten Jahre vor der Covid-19-Pandemie weisen für alle Sektoren und insgesamt auf eine erhebliche Erfüllungslücke mit Blick auf die Ziele des Jahres 2030 hin. „Die bisherigen Emissions-Reduktionsraten reichen bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für 2030 zu erreichen – weder in der Summe noch in den einzelnen Sektoren“, stellt Ratsmitglied Thomas Heimer fest und führt aus: „Die jährlich erzielte Minderungsmenge müsste sich im Vergleich zur historischen Entwicklung der letzten 10 Jahre mehr als verdoppeln. Im Industriesektor wäre etwa eine 10-fache und im Verkehr sogar eine 14-fache Erhöhung der durchschnittlichen Minderungsmenge pro Jahr notwendig.“
Das bisherige Ausbautempo bei Solar- und Windenergieanlagen, Wärmepumpen oder der Elektromobilität wird laut dem Bericht bei weitem nicht ausreichen, um die jeweils anvisierten Ausbauziele der Regierung zu erreichen. Zudem wird deutlich, dass im gleichen Maße der Abbau des fossilen Kapitalstocks im Gebäude- oder Verkehrssektor, beispielsweise von Öl- und Gasheizungen oder des fossilen Pkw-Bestands, notwendig wäre, um die Klimaziele auf diesem Wege zu erreichen.
„Gelingt es nicht, die Trendwende hin zu einem schnellen Umbau des Kapitalstocks zu realisieren, wird ein Erreichen der Klimaziele nur möglich sein, wenn weitere Hebel, wie die Aktivitätsentwicklung in Verbindung mit einer entsprechenden Änderung des Konsumverhaltens, ebenfalls stärker adressiert werden“, so die stellvertretende Vorsitzende Brigitte Knopf. Dabei zeige die Analyse der klimapolitischen Maßnahmen, dass bislang praktisch keine Maßnahmen implementiert wurden, die auf Verhaltensänderungen abzielen. „Zudem haben Instrumente, die auf den Aufbau neuen Kapitalstocks zielten, in vielen Fällen nicht zuverlässig dazu geführt, dass alter Kapitalstock entsprechend abgebaut wurde, und bei vielen Maßnahmen lagen die Wirkungen unterhalb der intendierten Minderungsziele”, so Knopf weiter.
„Unsere Beobachtungen der letzten zwanzig Jahre lassen fraglich erscheinen, ob ein Erreichen der zukünftigen Klimaziele ohne einen Paradigmenwechsel in der Klimapolitik gelingen kann“, stellt der Vorsitzende Hans-Martin Henning fest. Ein solcher Paradigmenwechsel würde darin bestehen, dass zukünftig alle zur Verfügung stehenden Wirkräume konsequent adressiert werden. Eine Möglichkeit für eine solche ganzheitliche Adressierung aller Wirkräume wäre die harte Begrenzung zulässiger Emissionsmengen. Politische Steuerung hätte dann nicht mehr die primäre Aufgabe, Emissionen zu steuern, sondern die dafür umso größere Herausforderung, den Wandel so zu gestalten, dass er für Wirtschaft und Gesellschaft ökonomisch und verteilungspolitisch tragfähig ist.
“Klimapolitik wäre dann nicht mehr überwiegend Emissions-Minderungspolitik, sondern verstärkt auch Wirtschafts- und Sozialpolitik unter den neuen Rahmenbedingungen der harten Mengengrenze“, so Henning. Ohne harte Begrenzung von Emissionsmengen, so das Ergebnis der Analysen, müssten politische Maßnahmen neben der Förderung des beschleunigten Ausbaus eines neuen Kapitalstocks deutlich stärker als bisher auch den Rückbau des fossilen Kapitalstocks und eine stärkere Ausschöpfung verhaltensbedingter Effizienzpotenziale adressieren, um die Aussicht auf eine Erreichung der Klimaziele zu verbessern.