Weil immer mehr elektrische Verbraucher in das Verteilnetz integriert werden, steigt der Bedarf, die Netze zu verstärken oder auszubauen. Theoretisch haben die verschiedenen Technologien im Verteilnetz ein großes Flexibilitätspotenzial, um Netzausbau zu vermeiden – etwa, indem der Stromverbrauch zeitlich verschoben wird und so Lastspitzen reduziert werden. Um diese Flexibilitätspotenziale zu heben, müssen jedoch Verbrauch und Erzeugung effizient koordiniert werden. Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze – die sich unterschiedlich auf die Kosten der Endverbraucher sowie den Netzbetrieb auswirken.
Um diese Herausforderung ging es bei der Veranstaltung „EWI Insights“ des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI). Die beiden EWI-Researcher Nils Namockel und Arne Lilienkamp stellten dort ihre Forschung zu diesem Thema vor.
„Mit der Energiewende und dem damit verbundenen Ausbau erneuerbarer Energien steigen die Anforderungen an das existierende Stromsystem“, sagt Nils Namockel, Research Associate am EWI. „Die Integration volatiler Erzeuger wie PV- und Windenergieanlagen bei gleichzeitig stockendem Netzausbau ruft zunehmend Netzengpässe hervor.“ Um diese zu entschärfen, müssen Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber zunehmend eingreifen („Einspeisemanagement“). Dies bedeutet in der Regel, dass die Einspeisung erneuerbarer Energien in das Stromnetz vorübergehend abgeregelt wird. In den vergangenen Jahren ist die abgeregelte Energiemenge gestiegen: von rund 4,7 TWh im Jahr 2015 auf ca. 6,5 TWh im Jahr 2019. Dabei wuchs der Anteil der im Verteilnetz abgeregelten Energiemenge, bezogen auf die Gesamtmenge, von 11 Prozent im Jahr 2015 auf rund 17 Prozent in 2019. Die Verteilnetzebene rückt folglich in Bezug auf Netzengpässe verstärkt in den Fokus.
Verbrauchsseitig verschärft der Anstieg zusätzlicher Verbraucher auf Niederspannungsebene die Situation. So stellen Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen zusätzliche Lasten im Netz mit einer bisweilen hohen Gleichzeitigkeit dar. Verteilnetze sind für diese neuen Herausforderungen jedoch oft nicht ausgelegt.
Um künftig Netzengpässen, hervorgerufen zum Beispiel durch überschüssige EE-Einspeisung oder gleichzeitiges Laden von Elektrofahrzeugen, auf lokaler Ebene entgegenzuwirken, stehen dem Verteilnetzbetreiber grundsätzlich zwei Optionen zur Verfügung:
Im Zuge der Digitalisierung wächst das Potenzial, Flexibilitätsoptionen zu nutzen und so den kapitalintensiven Netzausbau zu reduzieren oder ganz zu ersetzen. Neben der einfachen Abregelung der EE-Einspeisung hat insbesondere verbrauchsseitige Flexibilität (z.B. Ladevorgänge von Elektrofahrzeugen verschieben) das Potenzial, netzdienlich eingesetzt zu werden. Studien zeigen, dass die Nutzung von Flexibilität die Kosten für den Verteilnetzausbau um bis zu 57 Prozent reduzieren kann (E-Bridge, 2019).
Unklar ist jedoch, durch welchen Mechanismus die Flexibilität zur Beseitigung von Netzengpässen im Verteilnetz bestmöglich koordiniert werden kann. Generell koordinieren Märkte Angebot und Nachfrage. Differenziert werden kann zwischen lokalem Angebot bzw. lokaler Nachfrage, die sich jeweils auf einen Abschnitt im Verteilnetz beziehen, sowie zentralem Angebot bzw. zentraler Nachfrage, bezogen jeweils auf das übergelagerte Übertragungsnetz.
Bei der Koordination von Angebot und Nachfrage ergeben sich entsprechend der Abbildung drei verschiedene marktbasierte Ansätze:
(1) Beim Netzbezug (Quadrant oben links) wird ein zentrales Angebot (bspw. Strom im Day-Ahead-Markt) über einen Händler beschafft und der Endverbraucherin zu einem festgelegten Preis zur Verfügung gestellt. Variable Preissignale können innerhalb bestehender Großhandelsstrukturen die Bereitstellung von Flexibilität anreizen.
(2) Aggregatoren, zum Beispiel virtuelle Kraftwerke (Quadrant unten rechts), können dezentrale Erzeugungseinheiten bündeln und diese Kapazitäten den übergeordneten Strommärkten zur Verfügung stellen. Dieses Angebot wird rein marktlich eingesetzt.
(3) Virtuelle Kraftwerke könnten mit dem dezentralen Angebot aber nicht nur die zentrale Nachfrage bedienen, sondern den flexiblen Einsatz der Erzeugungs- und Verbrauchseinheiten auch dem Verteilnetzbetreiber anbieten. Die Nachfrage hat dann auch einen lokalen Charakter. So könnte bspw. die Summe der Flexibilität mehrerer Elektrofahrzeuge durch den Verteilnetzbetreiber netzdienlich eingesetzt werden. In diesem Fall spricht man von dezentraler bzw. lokaler Koordination (Quadrant oben rechts).
Grundsätzlich können alle drei beschrieben Ansätze Flexibilitäten in der Verteilnetzebene koordinieren. Entscheidend ist aber, wie sich der Einsatz von Flexibilität auf die Kosten der Endverbraucher und auf die Netzauslastung auswirkt. Die Effekte der Nutzung von variablen Preissignalen (Fall 1) und virtuellen Kraftwerken (Fall 3) im Vergleich zum Status Quo (keine Nutzung von Flexibilitäten) sind in den Abbildungen 3 und 4 für ein beispielhaftes Verteilnetz für das Jahr 2030 dargestellt. Der besondere Fokus liegt hier auf den Elektrofahrzeugen, die ein besonders hohes Flexibilitätspotenzial aufweisen.
Abbildung 3 zeigt die Belastung einer repräsentativen Stromleitung im Zeitverlauf (3 Tage in 15-Minuten-Intervallen) für die verschiedenen Konzepte. Die blaue Linie zeigt den Status quo, in dem Elektrofahrzeuge sofort beim Eintreffen zu Hause zu konstanten Strompreisen geladen werden. Im vorliegenden Fall wird die Leistungsbegrenzung der Stromleitung nicht überschritten (rote Linie). Dies geschieht jedoch unter ausschließlicher Berücksichtigung von variablen Strompreisen ohne zeitgleiche Berücksichtigung von Netzrestriktionen. Sie resultieren in sogenanntem Herdenverhalten, bei dem die Ladevorgänge vieler Elektrofahrzeuge in günstige Zeitpunkte verschoben werden, wodurch Lastspitzen und Engpasssituationen entstehen (gelb gestrichelte Linie).
Grundsätzlich bilden Preise Knappheiten ab. So geben Großhandelspreise Knappheiten hinsichtlich der Stromerzeugung wieder, jedoch nicht Knappheiten in der Infrastruktur / im Stromnetz. Netzentgelte könnten theoretisch Knappheiten in der Infrastruktur anzeigen. In Deutschland ist jedoch politisch festgelegt, dass Netzentgelte zeitlich konstant sind. Daher signalisieren sie aktuell keine Knappheiten, sondern dienen lediglich der Refinanzierung der Infrastruktur. Knappheiten in der Infrastruktur könnten (nach einer Gesetzesänderung) bspw. über leistungs- oder zeitvariable Netzentgelte berücksichtigt werden.
Die negativen Effekte der variablen Strompreise auf die Netzauslastung können auch durch die zielgerichtete Koordination des Ladeverhaltens durch virtuelle Kraftwerke unter Berücksichtigung von Netzrestriktionen abgefedert werden. Das Laden wird in dem Fall so koordiniert, dass aus Gesamtsystemsicht bei niedrigen Strompreisen geladen wird, allerdings die Netzrestriktionen berücksichtigt werden. Durch integrierte Optimierungsverfahren kann ein solches Optimum erreicht werden.
Abbildung 4 zeigt, dass durch den Wechsel zu variablen Strompreisen im betrachteten Fall gut ein Viertel der Ladekosten im Vergleich zum Status Quo eingespart werden kann. Der zusätzliche Einsatz eines virtuellen Kraftwerks zur Beseitigung von Netzrestriktionen erhöht die Ladekosten demgegenüber nur marginal.
Der Umsetzung lokaler Koordinationsmechanismen stehen jedoch regulatorische Hürden im Weg. So verhindert etwa das sogenannte Doppelvermarktungsverbot im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG), dass EE-Strom, für den Erzeuger eine Einspeisevergütung erhalten, zusätzlich lokal vermarktet werden kann. Zudem haben Verteilnetzbetreiber entsprechend der aktuellen Ausgestaltung der Anreizregulierung (ARegV) einen größeren Anreiz, ihr Netz auszubauen als vorhandene Flexibilität zu nutzen. Darüber hinaus können Endkundenstrompreise keine Signal-/Anreizwirkung entfalten, da sie bislang keine variablen Bestandteile haben. Außerdem könnte es für Energieversorger als Bilanzkreisverantwortliche schwieriger werden, ihre Bilanzkreise auszugleichen, wenn Haushalte an lokalen Märkten teilnehmen. Denn dann könnte es zu unvorhergesehenen Nachfrageabweichungen kommen (ewi ER&S, 2017).
Essenziell ist außerdem neben dem Voranschreiten der Digitalisierung (z.B. Einbau von digitalen Stromzählern), dass die „Unbundling“-Vorschriften gelockert werden. Letztere bezeichnen die Entflechtung von Netzbetrieb und Energievermarktung und sollen in Teilen der energiewirtschaftlichen Wertschöpfungskette Wettbewerb ermöglichen. Zu strikte Vorgaben behindern jedoch die effiziente Vermarktung von Kapazitäten unter Berücksichtigung von Netzrestriktionen. Würden die Unbundling-Vorschriften gelockert, könnten Markt- und Netzergebnisse besser integriert genutzt werden.
Literatur
E-Bridge (E-Bridge, 2019): Wirtschaftlicher Vorteil der netzdienlichen Nutzung von Flexibilität im Verteilnetz. Kurzstudie im Auftrag von innogy SE, EWE NETZ GmbH, Stadtwerke München Infrastruktur GmbH, 2019.
Bertsch J., Elberg C., Helgeson B., Knaut A., Tode C. (ewi ER&S, 2017): Disruptive Potential in the German Electricity System – an Economic Perspective on Blockchain. ewi Energy Research & Scenarios gGmbH, Juli 2017.