Das künftige Energieversorgungssystem muss flexibler ausgestaltet werden. Denn Energie soll langfristig klimaneutral bereitgestellt werden. Die Energiewende und der Ausbau der erneuerbaren Energien führen mittelfristig aber dazu, dass das zeitliche und örtliche Stromangebot nicht immer mit der Nachfrage übereinstimmt. Wie können also Flexibilitäts- und Dekarbonisierungsoptionen in einem integrierten Strom-, Gas- und Wärme-System aussehen?
Das zeigt der Abschlussbericht „Band 1: Systemmodellierung zur Identifikation von innovativen PtX-Anwendungen“ des Kompetenzzentrums Virtuelles Institut „Strom zu Gas und Wärme“. Darin hat das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) an der Universität zu Köln gemeinsam mit dem Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie (WI) sowie dem Institut für Energie- und Klimaforschung Energiesystemtechnik (IEK-10) des Forschungszentrum Jülich ein integriertes Energiesystem analysiert. Auch Strom- und Gasnetze wurden dabei berücksichtigt.
Ziel war es, ein europäisches Energiesystem abzubilden, in dem sich die Möglichkeit für eine vielfältige und erhöhte Durchdringung von Power-to-X-Anlagen in Europa bzw. Deutschland über eine sektorenübergreifende Konkurrenz mit anderen Flexibilitätsoptionen ergibt. Dafür hat das EWI-Team aus Broghan Helgeson, David Schlund, Max Schönfisch und Alexander Polisadov ein Szenario im Energiesystemmodell DIMENSION implementiert, welches eine 55-Prozent- bzw. 100-Prozent-Minderung der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 bzw. 2050 (ggü. 1990) über alle Länder und alle Sektoren in Europa unterstellt. Außerdem wird angenommen, dass die Dekarbonisierung nur durch Energieerzeugung in europäischen Ländern möglich ist. Importe von CO2-neutralen Brennstoffen aus Ländern außerhalb Europas sind in diesem Szenario – anders als in vielen anderen Studien – nicht zugelassen. Es zeigt sich, dass der Stromsektor bis zum Jahr 2030 im Szenario weitgehend klimaneutral ist, wobei die Elektrifizierung der Sektoren Wärme und Verkehr zu einem deutlichen Anstieg der Stromnachfrage (+460 TWh bzw. 90 Prozent im Vergleich zu 2019) in Deutschland führt.
Die Modellergebnisse zu den Endverbrauchssektoren ergeben unterschiedliche Dekarbonisierungsstrategien: Im Verkehrssektor spielen konventionelle Energieträger wie Benzin, Diesel und Kerosin bis nach 2030 weiter eine bedeutende Rolle. Auch im Jahr 2040 werden noch rund 75 Prozent des deutschen Energieverbrauchs im Straßenverkehr durch fossile Kraftstoffe gedeckt. Dieser Mangel an CO2-Minderung ist eine Folge der vergleichsweise hohen Vermeidungskosten im Vergleich zu anderen Sektoren, welche CO2 früher und stärker mindern.
Im Jahr 2050 besteht die deutsche Fahrzeugflotte zu 55 Prozent aus Elektrofahrzeugen, zu 30 Prozent aus Wasserstoff-Brennstoffzellenfahrzeugen und zu 15 Prozent aus Plug-In Hybriden, die mit synthetischem Benzin und Strom betrieben werden.
Im Wärmesektor führt eine drastische Umstellung von gasbetriebenen auf elektrische Heizungen zu einem Rückgang der CO2-Emissionen um 70 Prozent bis zum Jahr 2030. Der Anteil elektrischer Wärmeerzeuger am gesamten Endenergieverbrauch der deutschen Wärmeversorgung beträgt im Jahr 2030 43 Prozent und verdoppelt sich bis 2050 auf 87 Prozent. Power-to-Heat, maßgeblich über elektrische Wärmepumpen, dominiert die Wärmeerzeugung für die Deckung des Raumwärme- und Warmwasserbedarfs von Haushalten, Gewerbe/Handel/Dienstleistungen (GHD), Industrie und Landwirtschaft sowie des Kühl- und Kochbedarfs von Haushalten und GHD. Darüber hinaus nutzen Wärmepumpen thermische Speicher, um flexibel auf Strompreissignale reagieren zu können.
Insgesamt erweist sich die direkte Nutzung von Strom bei der Minimierung der Gesamtsystemkosten als vorteilhaft gegenüber der indirekten Nutzung von Strom. Es zeigt sich, dass Power-to-X-Energieträger erst dann genutzt werden, wenn eine direkte Elektrifizierung technisch nicht oder nur zu prohibitiv hohen Kosten möglich ist.
Der Bedarf an synthetischen Energieträgern steigt in Deutschland nach 2040 deutlich an und verachtfacht sich innerhalb von zehn Jahren auf 502 TWh. Die Erzeugung dieser Power-to-X-Energieträger erfolgt jedoch nahezu vollständig im europäischen Ausland. Im Inland wird lediglich Wasserstoff erzeugt.
Zwischen EE-Stromerzeugung und dem Einsatz von Flexibilitätsoptionen gibt es eine Korrelation: Bei hohen EE-Anteilen kommt negative Flexibilität zum Einsatz, um Erzeugungsspitzen abzudecken. In diesem Fall wird Strom verbraucht, um das Gleichweicht im System zu gewährleisten. Die Ergebnisse zeigen, dass Elektrofahrzeuge ein großes Potenzial haben, Erzeugungsspitzen zu glätten: Unter transparenten Marktsignalen stellen Elektrofahrzeuge durch eine Verschiebung des Ladevorgangs Flexibilität bereit, in dem sie die Aufladung des für den Betrieb des Fahrzeugs erforderlichen Strombedarfs optimieren.
Anderseits bieten manche Flexibilitätsoptionen bei geringem EE-Anteil Strom an, um die Bedarfslücke zu füllen und den Einsatz von teurer Backup-Kraftwerkskapazität zu vermeiden. In solchen Fällen spielen stationären Batteriespeicher sowie Power-to-Heat mit thermischem Speicher eine wichtige Rolle.
Außerdem hat das EWI untersucht, welche Auswirkungen die resultierende Gasnachfrage sowie die Einspeisung von PtX-CH 4 auf das Erdgasnetz und die Erdgaspreise hat. Für eine konsistente Analyse hat das EWI das Strommarktmodell DIMENSION und das Gasinfrastrukturmodell TIGER sequentiell simuliert. Die Szenario-Ergebnisse zeigen, dass die Gastransitvolumen durch das deutsche Erdgasnetz trotz sinkender inländischer Nachfrage bis 2040 nur geringfügig sinkenDie Einspeisung von Wasserstoff in Erdgasnetze erfolgt im untersuchten Szenario nur in geringem Umfang und erfordert eine enge Verzahnung der Netzplanung für Strom, Erdgas und Wasserstoff.
Darin hat das EWI künftige Entwicklungen im Verkehrssektor mit dem Energiesystemmodell DIMENSION untersucht. Ziel war es, die Gesamtkosten zur Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 über alle betrachteten Sektoren und Länder zu minimieren. Die Beziehung zwischen Investitionen, Energieverbrauch und Emissionseinsparungen im Straßenverkehrssektor wird zusammen mit den Auswirkungen auf den Stromsektor für zwei Szenarien analysiert.
Die Ergebnisse des „EuropaAutark“-Szenarios aus Band I zeigen, dass eine kostenminimale 100-Prozent-Minderung der CO2äq.-Emissionen in Europa eine signifikante Durchdringung von Elektrofahrzeugen ab 2030 bewirken würde. Zusätzlich sind Brennstoffzellenfahrzeuge sowie Plug-In-Hybride, angetrieben mit grünem Wasserstoff bzw. PtX-Benzin, langfristig kosteneffiziente Dekarbonisierungsoptionen. Im zweiten Szenario „IEK-14 PROG-MIX“ wird das DIMENSION-Modell wieder verwendet, jedoch mit einem vorgegebenen Pfad für die Anteile von Elektrofahrzeugen, Brennstoffzellenfahrzeugen und Verbrennungsmotoren. Der Vergleich der Ergebnisse der beiden Szenarien zeigt, dass eine Einschränkung des Einsatzes von Elektrofahrzeugen zu weniger Stromnachfrage des Verkehrssektors und damit zu einer Senkung des deutschen Strompreises führt. Die Abweichung vom optimalen Fahrzeugmix im IEK-14 PROG-MIX-Szenario führt jedoch insgesamt zu einem Anstieg des europäischen CO2-Preises um 100 Euro pro Tonne CO2-Äquivalent im Jahr 2050. Zudem entstehen im Gesamtsystem jährliche Mehrkosten in Höhe von ca. 38 Mrd. Euro im Jahr 2030, 190 Mrd. Euro im Jahr 2040 und 162 Mrd. Euro im Jahr 2050. Die Ergebnisse der Szenarien verdeutlichen die Bedeutung von technologieoffenen, sektor- und länderübergreifenden Regulierungen sowie die Notwendigkeit der Einführung von Anreizmechanismen für eine effiziente Dekarbonisierung des Energiesystems.